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Psychologisches Institut Entwicklungspsychologie: Erwachsenenalter

Urteile: Erfahrung oder einfache statistische Regeln?

von Dr. Sebastian Horn

Viele Urteile müssen unter Unsicherheit getroffen werden. Psychologen, Mediziner, Juristen, und andere Experten werden oftmals gerade in Situationen konsultiert, in denen die Informationslage unklar ist, um Diagnosen zu stellen und menschliches Verhalten vorherzusagen. Dabei hängen weitere Konsequenzen (z.B. der Behandlungserfolg einer Therapie) häufig von der Qualität der Urteile ab: Je akkurater ein Urteil, desto besser können weitere Massnahmen daraufhin abgestimmt werden.

Bei Urteilen können Experten und Berater sich dabei im Wesentlichen auf zwei unterschiedliche Ansätze stützen: auf (a) intuitive, erfahrungsbasierte Verfahren und (b) formal-statistische Regeln. Doch welcher dieser Ansätze führt im klinischen Alltag zu besseren Urteilen? Dieser Frage sind die Forscher Robyn Dawes, David Faust, und Paul Meehl in einer vielbeachteten Arbeit im Jahr 1989 nachgegangen, in der sie wissenschaftliche Veröffentlichungen analysierten, die systematisch diese beiden Ansätze verglichen hatten. Eine repräsentative Veröffentlichung dazu aus dem Bereich der Psychiatrie und klinischen Psychologie stammt beispielsweise von Goldberg (1968): Um zu beurteilen, ob bei Patienten eine «Neurose» oder «Psychose» vorliegt, wurde in klinischen Untersuchungen oft das Minnesota Multiphasic Personality Inventory (MMPI) eingesetzt. Das MMPI ist ein weitverbreiteter klinischer Persönlichkeitstest, mit dem ein relativ vollständiges Bild von Beschwerden und Persönlichkeit eines Patienten gewonnen werden kann. Die Differentialdiagnose («Neurose» oder «Psychose») war dabei oft von grosser praktischer Bedeutung. Die Diagnose einer «Psychose» kann beispielsweise zu einer dringend notwendigen, aber gleichzeitig riskanteren medikamentösen Behandlung führen. Goldberg untersuchte ein paar einfache Entscheidungsregeln durch Analyse der Antworten von Patienten im MMPI und deren Krankengeschichten. Dabei stellte sich heraus: Die effektivste statistische Regel zur Unterscheidung der beiden Zustände war recht einfach. Man addierte die Werte von drei Skalen im MMPI Test und subtrahierte dann die Werte von zwei anderen Skalen. Wenn der resultierende Gesamtwert unter 45 fiel, wurde ein Patient als «neurotisch» diagnostiziert, andernfalls als «psychotisch».

Als Nächstes analysierte Goldberg über 850 weitere MMPI Auswertungen (aus sieben verschiedenen klinischen Einrichtungen) und verglich die Genauigkeit seiner einfachen statistischen Entscheidungsregel mit den Entscheidungen von 29 Klinikern, die dasselbe Material analysierten und zusätzlich für ihre Diagnosen auch ihre Erfahrung und Eindrücke nutzen konnten. Die Kliniker kamen in dieser Untersuchung dabei auf 62 % korrekte Diagnosen bzw. Urteile (die beste Person unter den Klinikern erreichte 67% korrekte Urteile). Die einfache (und wenig aufwendige) statistische Entscheidungsregel hingegen führte zu 70% richtigen Urteilen (und übertraf somit die durchschnittliche Urteilsgenauigkeit der Kliniker als auch die Genauigkeit der besten Einzelperson).

Die Beobachtungen von Goldberg scheinen, wie Dawes und Kollegen berichten, sehr typisch zu sein: In fast 100 weiteren Studien führten bisweilen recht einfache, formal-statistische Regeln zu besseren (oder mindestens ebenso guten) Urteilen als andere erfahrungsbasierte Verfahren, die von den klinischen Experten damals verwendet wurden. Dawes und Kollegen betonen, dass es gerade im klinischen Bereich sehr nützlich sein könnte, transparente und einfache statistische Entscheidungsregeln anzuwenden. Die Versuchung, sich bevorzugt auf persönliche Eindrücke und Erfahrungen zu verlassen scheint selbst unter Experten gross, führt jedoch oft nicht zu den besten Urteilen.

 

 

Literatur

Dawes, R. M., Faust, D., & Meehl, P. E. (1989). Clinical versus actuarial judgment. Science, 243, 1668-1674.
https://doi.org/10.1126/science.2648573

Goldberg, L. R. (1968). Simple models or simple processes? Some research on clinical judgments. American Psychologist, 23, 483–496.
https://doi.org/10.1037/h0026206

 

 

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