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Psychologisches Institut Entwicklungspsychologie: Erwachsenenalter

Leben im Gleichgewicht

von Oliver Kaftan


Das Leben ist voller guter und schlechter Ereignisse, voller Hochs und Tiefs, Freuden und Tränen. Mal erleben wir diese Hochs und Tiefs intensiver – sind nahe an der Ekstase oder der völligen Verzweiflung –, mal sehr viel sanfter. Meistens scheinen wir jedoch nach längerer oder kürzerer Zeit wieder einen Gemütszustand zu erreichen, der jenem vor den Ereignissen gleicht.

Beobachtet man etwa Personen, die im Lotto eine grosse Summe Geld gewonnen haben, sind diese unmittelbar nach dem Gewinn zwar deutlich glücklicher als sie es vorher waren, ein Jahr später erreichen sie jedoch wieder ihren ursprünglichen Glückszustand. Analog bei negativen Ereignissen: Wenn Personen ihre Arbeitsstelle oder einen geliebten Menschen verlieren, fühlen sie sich unmittelbar danach sehr schlecht, aber zumeist erreichen sie nach einer gewissen Zeit beinahe wieder ihre einstmalige Lebenszufriedenheit.

Wie verhält es sich indes mit unserem Affekt (Stimmung und Emotionen), wenn gerade nichts Aussergewöhnliches in unserem Leben passiert, wir also nicht im Lotto gewinnen und nicht die Arbeitsstelle verlieren?

Natürlich ist unser Leben noch immer voller Hochs und Tiefs, aber diese Hochs sind dann „bloss“ Mini-Hochs und die Tiefs Mini-Tiefs. Entsprechend ist auch die Distanz zum Gleichgewicht kleiner und man könnte folglich vermuten, dass wir sehr schnell wieder unser Gleichgewicht, eine Gemütsstabilität erreichen, die dann für eine Weile anhält. Im Gegensatz dazu wäre es aber auch möglich, dass wir nie am Punkt des persönlichen Gleichgewichts verweilen, weil ständig etwas passiert bzw. jedes noch so kleine Ereignis uns ein Stück weit von diesem Gleichgewicht „wegdrückt“.

Erik Pettersson von Karolinska Institut in Stockholm wollte deshalb mit seinen Kollegen untersuchen, ob unsere Stimmung sich tatsächlich jemals bei unserem Gleichgewicht stabilisiert oder ständig um diesen Punkt schwankt. Dazu baten die Forscher achtzehn gesunde japanische Studierende, über einen Zeitraum von drei Monaten einmal täglich 57 Stimmungsadjektive zu bewerten. Die Studierenden sollten dabei auf einer Skala von 1 bis 5 angeben, inwiefern jedes der Wörter ihre aktuelle Stimmung beschreibt. In der Liste enthalten waren Wörter, die sich auf einen positiven (z.B. „fröhlich“, „beschwingt“ oder „begeistert“) oder einen negativen Affekt (z.B. „besorgt“, „nervös“ oder „beschämt“) beziehen. Anschliessend wurden die Verläufe analysiert.

Die Forscher konnten zeigen, dass sich der Affekt – sowohl positiver als auch negativer – ähnlich wie bei einem Pendel umso schneller wieder in Richtung des Gleichgewichts bewegt, je weiter er vom Gleichgewicht entfernt ist. Mit anderen Worten: Eine grössere, intensiver erlebte Freude verfliegt schneller als eine kleine, weniger intensiv erlebte Freude. Der Affekt verlangsamt sich jedoch in beiden Fällen (grosse und kleine Abweichung) nicht, wenn er sich dem Gleichgewicht nähert, sondern schiesst leicht darüber hinaus. Entsprechend geht es dann wieder in die andere Richtung. Doch der Affekt stoppt wieder nicht beim perfekten Gleichgewicht, sondern schiesst erneut leicht darüber hinaus.

Das heisst: Unser Affekt, unsere Stimmung schwankt, schwingt bzw. oszilliert immer leicht um das Gleichgewicht und bleibt nie stehen. Folglich ist es angebrachter von einem Verweilen in einer Stabilitäts- oder Behaglichkeitszone rund um das Gleichgewicht zu sprechen als von einem Sein im perfekten Gleichgewicht (spunkt).

Dieses Wissen um das ständige Schwingen bei gesunden Menschen ist wichtig, weil andere Forschungsergebnisse darauf hindeuten, dass eine massive Störung des Gleichgewichts infolge eines nicht bewältigten Ereignisses – etwa nach dem Verlust des Ehepartners – das Pendeln des Gemüts zum Stillstand bringen kann.

In diesem Sinne: Schwingen Sie gut!

Literaturangaben:
Pettersson, E., Boker, S. M., Watson, D., Clark, L. A., & Tellegen, A. (2013). Modeling daily variation in the affective circumplex: A dynamical systems approach. Journal of Research in Personality, 47(1), 57–69. http://doi.org/10.1016/j.jrp.2012.10.003

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