Navigation auf uzh.ch
Die Forschung zur Moralentwicklung geht im Allgemeinen davon aus, dass Kinder moralische Normen erst im Schulalter entwickeln. Diese allgemeine Annahme wurde in letzter Zeit von verschiedenen Seiten in Frage gestellt. In der neuesten Ausgabe der Psychological Science berichten Forscher der Universitäten Illinois und Pennsylvania über zwei Studien, welche zeigten, dass schon 19 bis 21 Monate alte Kinder einen Sinn für Fairness besitzen.
In der ersten Studie beobachteten Kinder eine Versuchsleiterin, wie sie Spielzeug zwischen zwei Handpuppen-Giraffen verteilte. Die Giraffen riefen „Yeh, yeh“ in freudiger Erwartung. Danach bekamen entweder beide Giraffen je ein Spielzeug, oder aber eine der Giraffen ging leer aus. Gemessen wurde, wie lange die Kinder die Szene nach dem Weggehen der Versuchsleiterin noch anschauten. An einem erwarteten Ereignis verlieren nämlich die Kinder schnell das Interesse. War das Ereignis dagegen unerwartet, betrachten sie die Szene lang. Es zeigte sich, dass die Kinder erwarteten, dass beide Giraffen je ein Spielzeug bekommen werden, und überrascht waren, wenn das nicht der Fall war. Dieser Unterschied zeigte sich nicht, wenn die Giraffen „unbelebt“ waren (sie bewegten sich nicht und sprachen nicht) oder wenn die Spielzeuge schon von Anfang an bei den Giraffen auf dem Tisch lagen. Die Kinder unterschieden also sehr wohl, ob es sich um eine Fairness-Situation handelt oder nicht.
In der zweiten Studie beobachteten die Kinder folgende Szene: die Versuchleiterin bittet zwei junge Frauen, das herumliegende Spielzeug aufzuräumen. Als Belohnung dafür gäbe es danach einen Sticker. In einer Bedingung räumen beide Frauen auf, in der anderen Bedingung aber nur die eine, während die andere nichts tut. Als die Versuchsleiterin in dieser unfairen Situation danach beide Frauen mit einem Sticker belohnte, schauten die Kinder die Szene viel länger an, als wenn beide Frauen beim Aufräumen mitgeholfen haben. Diesen Unterschied gab es nicht, wenn die Belohnung vorher nicht ausgesprochen wurde. Wenn es sich also um keine Fairness-Situation handelte, weil die Verteilung der Stickers nichts mit der vorherigen Aufgabe zu tun hatte, war es für die Kinder in Ordnung, das beide Frauen einen Sticker bekommen haben, egal ob sie aufräumten oder nicht.
Wie kommen Kleinkinder zu moralischen Erwartungen? Eine Möglichkeit ist, dass uns grundlegende moralische Normen angeboren sind. Die Forscher sind sich allerdings nicht einig, welche Normen das genau sein sollten. Die andere Möglichkeit ist, dass durch Beobachtung alltäglicher sozialer Situationen Kinder eine Vorstellung davon entwickeln, welche Handlungen fair und welche unfair sind. Ob angeboren oder gelernt, die Vorstellung von Fairness führt nicht zwangsmässig zu fairem Handeln. Wie aus anderen Studien bekannt ist, verteilen selbst viel ältere Kinder begehrenswerte Objekte fast immer zu ihrem eigenen Gunsten.
Quelle: Sloane, S., Baillargeon, R., & Premack, D. (2012). Do infants have a sense of fairness? Psychological Science, 23. doi: 10.1177/0956797611422072.
Bitte beachten Sie, dass diese Studie nicht in unserem Labor durchgeführt wurde. Wenn Sie an einer Studie in unserem Labor teilnehmen möchten, finden Sie dazu hier weitere Informationen.