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Warum sind manche Gesellschaften eher individualistisch und andere eher kollektivistisch? Laut einer Studie von Talhelm und Kollegen, die in der Fachzeitschrift Science publiziert wurde, könnte die Antwort in der Agrargeschichte einer Region liegen. Demnach könnte es unser Denken und Verhalten bis heute beeinflussen, ob unsere Vorfahren Reis oder Weizen angebaut haben. Belege für ihre Theorie liefern die Autoren durch einen Vergleich von Menschen aus traditionellen Reis- und Weizenanbaugebieten in China.
Kulturelle psychologische Unterschiede werden vorwiegend zwischen westlichen und ostasiatischen Ländern untersucht. Dabei hat sich gezeigt, dass westliche Kulturen eher individualistisch und analytisch sind, während ostasiatische Kulturen eher als kollektivistisch und holistisch denkend beschrieben werden. Doch was ist die Ursache für dafür? Eine Erklärung ist die Modernisierungshypothese, die besagt, dass Wohlstand, Bildung und Kapitalismus zu mehr Individualismus führen. In Ländern wie Japan oder Südkorea sind Menschen allerdings trotz Modernisierung (noch) kollektivistisch. Die Pathogen-Theorie erklärt kulturelle Unterschiede durch die Verbreitung von übertragbaren Krankheiten, wonach eine höhere Krankheitslast kollektives Denken fördert. Die Autoren der Studie argumentieren, dass die landwirtschaftliche Tradition, speziell der Anbau von Reis oder Weizen, eine entscheidende Rolle spielen könnte.
Nach der sogenannten Reis-Theorie sind Gesellschaften, die traditionell Reis anbauen, kollektivistischer, da der Anbau von Reis aufwendiger ist und mehr Zusammenarbeit und Koordination erfordert als der Anbau von Weizen. Ob eine Gesellschaft eher kollektivistisch oder individualistisch ist, hängt demnach mit den Erfordernissen von Anpflanzungsmethoden zusammen. So müssen Reisfelder ständig bewässert werden und auch die Ernte ist vergleichsweise arbeitsaufwendig, wodurch Bauern auf gegenseitige Hilfe angewiesen sind. Um ihre Theorie zu testen, haben die Wissenschaftler eine Befragung mit 1162 Probanden aus verschiedenen Regionen in China durchgeführt. Ihre Ergebnisse sind kompatibel mit der Reis-Theorie: Probanden aus traditionellen Reisanbaugebieten waren in mehreren psychologischen Tests eher kollektivistisch und holistisch und Probanden aus traditionellen Weizenanbaugebieten eher individualistisch und analytisch. Demgegenüber sind die Befunde inkompatibel mit der Modernisierungshypothese und der Pathogen-Theorie.
Die Studie deutet darauf hin, dass landwirtschaftliche Traditionen die Denkweise und Kultur einer Gesellschaft über Generationen hinweg prägen können. Die Reis-Theorie und die Ergebnisse liefern einen neuen Ansatz zur Erklärung kultureller Unterschiede zwischen ostasiatischen und westlichen Ländern sowie innerhalb von Ländern. Es bleibt zu testen, ob sich ähnliche Effekte auch in anderen Kulturen zeigen und wie langfristig die Effekte sind.
Talhelm, T., Zhang, X., Oishi, S., Shimin, C., Duan, D., Lan, X., & Kitayama, S. (2014). Large
Scale psychological differences within China explained by rice versus wheat
agriculture. Science, 344(6184), 603–608. https://doi.org/10.1126/science.1246850
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